Zweigeschlechtlichkeit bedeutet, dass es in vielen Gesellschaften nur zwei Geschlechter gibt oder geben soll: Frau und Mann. Man begrĂŒndet das damit, dass es biologisch nur zwei verschiedene Körper gibt â einen weiblichen und einen mĂ€nnlichen Körper â und dass man aufgrund des Körpers, den man von Geburt aus hat, dann entweder eine Frau oder ein Mann ist. Frauen sind in dieser Perspektive das Gegenteil von MĂ€nnern. Diesen geschlechtlichen Unterschied soll man an Aussehen, Verhalten und Interessen erkennen. Eine Frau soll sich demnach wie eine Frau verhalten, kleiden und weibliche Interessen haben und ein Mann soll sich wie ein Mann verhalten, kleiden und mĂ€nnliche Interessen haben. Welche Verhaltensweisen, welches Aussehen und welche Interessen mĂ€nnlich sind und welche weiblich, das bestimmt jede Gesellschaft fĂŒr sich. Wenn Gesellschaften an Zweigeschlechtlichkeit glauben, dann werden Menschen, die nicht Mann oder Frau sind, als nicht normal angesehen und anders behandelt als Frauen und MĂ€nner. Deswegen gibt es auch viel Kritik an der Vorstellung, dass es nur zwei Geschlechter gibt.
In heteronormativen bzw. cisnormativen Gesellschaften gilt die Grundannahme, dass es nur zwei Geschlechter gibt, dass diese Geschlechter von der Natur vorgegeben sind und dass jeder Mensch bei der Geburt aufgrund körperlicher Merkmale eindeutig einem der Geschlechter zugeordnet werden kann. Ferner wird angenommen, dass jeder Mensch eine GeschlechtsidentitĂ€t entwickelt, die zum Geburtsgeschlecht passt und dass diese ein Leben lang konstant bleibt. Weiterhin werden die beiden Geschlechter als gegensĂ€tzlich verstanden. Dieser normativen Idee entsprechend wird z.B. eine Person, die mit Penis und Hoden geboren wird, als mĂ€nnlich kategorisiert, entwickelt eine mĂ€nnliche GeschlechtsidentitĂ€t und drĂŒckt diese stereotyp aus, indem sie sich entsprechend dem jeweiligen kulturellen Kontext âtypisch mĂ€nnlichâ kleidet, verhĂ€lt und entsprechende Interessen (z.B. FuĂball) hat, einen klassischen âMĂ€nnerberufâ (z.B. Handwerker oder Manager) ausĂŒbt usw. Diese Vorstellungen entsprechen weit verbreiteten Alltagstheorien zu Geschlechtern, die auch Wissenschaften wie Biologie, Medizin oder Erziehungswissenschaften beeinflusst haben. Bis heute gelten Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen, als âgestörtâ, ânicht normalâ oder zumindest auffĂ€llig. Auch wird ein nicht geschlechterstereotypes Verhalten hĂ€ufig als ein Hinweis auf HomosexualitĂ€t interpretiert. So haben manche Eltern Angst, dass z.B. ihr Sohn spĂ€ter schwul wird, wenn er sich als Kind fĂŒr Puppen interessiert. Â
Gegen die Annahme einer natĂŒrlichen Zweigeschlechtlichkeit spricht jedoch die Tatsache, dass es biologisch gesehen nicht nur ein weibliches und ein mĂ€nnliches Geschlecht gibt, sondern es auch zwischengeschlechtliche Normvarianten gibt, also Körper, die sich zwischen den Polen mĂ€nnlich/weiblich befinden. Gegen die Annahme, dass Geburtsgeschlecht und IdentitĂ€t immer ĂŒbereinstimmen, spricht die Existenz von transgeschlechtlichen Personen, die eine IdentitĂ€t ausbilden, die nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht. Manche trans* Personen widerlegen auch die Annahme, dass eine einmal herausgebildete GeschlechtsidentitĂ€t fĂŒr den Rest des Lebens so bleibt und sich nicht mehr Ă€ndern wĂŒrde (Konstanzannahme), sofern sie ihr Geschlecht im Laufe des Lebens wechseln (kontrovers bleibt hier die Frage, ob nur die Geschlechterrolle gewechselt wird oder auch die IdentitĂ€t). Gegen die Annahme, dass MĂ€nner und Frauen gegensĂ€tzliche Pole darstellen, spricht die Tatsache, dass alle Geschlechter eine groĂe Bandbreite an Verhaltensweisen, Interessen und Persönlichkeitsmerkmalen aufweisen und die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts gröĂer sind als zwischen den Geschlechtern. So können sich auch Frauen fĂŒr FuĂball interessieren und MĂ€nner sich die NĂ€gel lackieren. Dabei bedeutet das nicht automatisch, dass diese Frauen lesbisch oder diese MĂ€nner schwul sind; es gibt sowohl heterosexuelle Menschen, die sich nicht geschlechterstereotyp verhalten, als auch homo- oder bisexuelle Menschen, die sich geschlechterstereotyp verhalten.
Die Norm der Zweigeschlechtlichkeit zeigt sich in zahlreichen Institutionen, die von zwei Geschlechtern ausgehen, von der Sprache (er/sie), Anrede (Herr/Frau), ĂŒber öffentliche RĂ€ume (Toiletten, UmkleiderĂ€ume, KleidungsgeschĂ€fte, Einrichtungen der Sozialen Arbeit) bis zum Recht (Personenstand). In den letzten Jahren finden hier langsam gesellschaftliche VerĂ€nderungen statt, wie z.B. durch die EinfĂŒhrung des dritten Geschlechts im Personenstand âdiversâ, die jedoch auch auf viel Gegenwehr stoĂen. Somit bleibt abzuwarten, inwiefern sich die Norm der Zweigeschlechtlichkeit langfristig abschwĂ€chen wird oder sich weiterhin hĂ€lt.
Menschen mit Behinderungen werden in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft oft eher als geschlechtslose Wesen gesehen, ihre MĂ€nnlichkeit oder Weiblichkeit wird ihnen abgesprochen. Frauen mit Behinderungen werden z.B. im Unterschied zu Frauen ohne Behinderungen nicht auf ein Sexobjekt reduziert, sondern als per se unattraktiv und nicht sexuell begehrenswert abgewertet. Sie sollen im Gegensatz zu anderen Frauen nicht die Mutterrolle erfĂŒllen, sondern möglichst kinderlos bleiben. Manche MĂ€nnlichkeitsvorstellungen wie StĂ€rke und UnabhĂ€ngigkeit stehen im Widerspruch zu Konstruktionen von Behinderung als âschwachâ und âabhĂ€ngig/hilfsbedĂŒrftigâ, sodass auch MĂ€nnern mit Behinderung hĂ€ufig ihre MĂ€nnlichkeit abgesprochen wird. Insbesondere wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten sich nicht an stereotype Vorstellungen von MĂ€nnlichkeit/Weiblichkeit halten, wird das oft als behinderungsbedingte Abweichung verstanden, anstatt als selbstbestimmter Ausdruck der eigenen Persönlichkeit jenseits stereotyper Vorstellungen. Heute gilt aber, dass zum Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit auch das selbstbestimmte Ausleben der eigenen GeschlechtsidentitĂ€t und -Rolle jenseits normativer Vorgaben gehört.