Queer

Queer ist ein englischer Begriff, der früher als Schimpfwort für Menschen verwendet wurde, die nicht heterosexuell oder nicht heteronormativ lebten. Heute bezeichnen sich Menschen als queer, die nicht heterosexuell oder heteronormativ leben (wollen). Es können homo-, bi-, pansexuelle oder auch trans* und intergeschlechtliche Menschen sein. Vor allem bezeichnen sich Menschen als queer, die sich gegen die Kategorisierung von Menschen als homo-/heterosexuell oder Mann/Frau selbst wenden. Queer ist daher auch politisch, das heißt, man möchte diese Normen und Kategorien abschaffen und allen Menschen ermöglichen, ohne die heterosexuelle und Geschlechternormen zu leben.

Queer war ursprünglich ein Schimpfwort für Personen, die heteronormativen Erwartungen nicht entsprechen, also z.B. Menschen mit einer gleichgeschlechtlichen Orientierung oder einem nicht geschlechterkonformen Aussehen und/oder Verhalten. Anfang der 1990er hat man sich queer als Selbstbezeichnung angeeignet, und zwar bezogen auf Politik (queer politics), Wissenschaft (queer theory) und als eine Alternative zu gängigen Identitätskategorien (homo/hetero) zur Selbstbeschreibung (queer identity).

Queere Politik entstand in den USA Ende der 1980er u.a. als Reaktion auf die damals dramatisch verlaufende HIV/AIDS-Krise sowie die Tatsache, dass die Homo Liberation (Homobefreiungsbewegung) sich seit ihrem Entstehen 1969 zunehmend zu einer schwullesbischen Lobbypolitik entwickelt hatte. Die Homobefreiungsbewegung hatte zu Beginn Geschlechternormen auflösen wollen und war davon ausgegangen, dass alle Menschen bisexuell veranlagt sind und nur durch den Heterosexismus der Gesellschaft in eine heterosexuelle Orientierung gedrängt werden. In den 1980ern hatten diese radikalen Ideen einem Minderheitenmodell sexueller Orientierung Platz gemacht und man ging davon aus, dass es eine Mehrheit heterosexuell veranlagter und eine Minderheit homosexuell veranlagter Menschen gibt. Das Ziel schwul-lesbischer Lobbypolitik war die Gleichstellung der homosexuellen Minderheit. Queere Politik ging mit einer erneuten Radikalisierung einher: Es ging den queeren Aktivist*innen und Theoretiker*innen darum, die grundlegenden heteronormativen Strukturen der Gesellschaft anzugreifen und den Sinn der Kategorisierung in heterosexuell (normal) und queer (abweichend) generell infrage zu stellen. Auch die schwul-lesbische Identitätspolitik wurde auf ihre Ausschlüsse (z.B. von bisexuellen Menschen oder Menschen mit Behinderungen) in den eigenen Reihen hin kritisch befragt.

Queer als Selbstbezeichnung war daher erstens eine politische Verortung in queerer Politik, die sich gegen heteronormative Strukturen und Zweigeschlechtlichkeit in der Gesellschaft richtete. Zweitens sollte queer als Selbstbezeichnung eine Alternative zu festen und eindeutigen Identitätskategorien wie homo/hetero darstellen. Queer war einerseits ein Sammelbegriff für alle Menschen, die von der heterosexuellen und zweigeschlechtlichen Norm abweichen und andererseits ein Begriff, der Schubladendenken an sich überwinden und die Kategorisierung in Mann/Frau und hetero/homo sprengen wollte.

Der Begriff fand schnell Eingang in den deutschen Sprachgebrauch, aber verlor größtenteils hier seine politische Sprengkraft, weil er im Deutschen keine Geschichte als Schimpfwort hatte und weil er allzu schnell als Sammelbegriff für schwul und lesbisch verwendet wurde, ohne die grundlegende Kritik an diesen Kategorien selbst zu transportieren. Jedoch gab und gibt es auch in Deutschland queere Aktivist*innen, die z.B. statt für die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare für die Abschaffung der Ehe als Privilegierung des Paars an sich plädierten. Andere wiesen auf die Ausschlüsse von Menschen in den eigenen Communities hin, die einer eindeutigen Definition von Homosexualität nicht entsprechen, wie z.B. bisexuelle oder manche trans* Personen.

Kontrovers diskutiert wird, was alles unter queere Praxen oder Communitys fällt: Sind z.B. heterosexuelle Menschen, die nicht-monogam leben, auch queer, weil sie aus der Monogamie-Norm fallen, oder nur dann, wenn sie auch gleichgeschlechtliche Kontakte/Beziehungen haben oder trans* sind? Oder kommt es z.B. darauf an, inwiefern ihre Beziehungspraxis bestehenden Geschlechternormen entspricht oder diese infrage stellt? Auch stellt sich die Frage, inwiefern Sexualität und Beziehungen bestimmter benachteiligter Gruppen von der Gesellschaft schon immer als „abweichend“ gesehen wurden, selbst wenn diese heterosexuell sind, z.B. aufgrund rassistischer oder ableistischer Zuschreibungen. Daher gibt es Diskussionen, inwiefern z.B. die Sexualität von Schwarzen Frauen oder Menschen mit Behinderungen auch queer ist, insofern sie nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. Hier sollte aber unterschieden werden zwischen (diskriminierenden) Fremdzuschreibungen („Die Sexualität von Menschen mit Behinderungen ist nicht normal“) und den Selbstverständnissen von Menschen („Als Mensch mit Behinderung nehme ich mir das Recht, sexuelle Normen der Gesellschaft zu ignorieren“). Menschen mit Behinderung haben das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie normgerecht oder nicht normgerecht, z.B. queer, leben wollen.


Literatur

  • Barker, Meg-John/Scheele, Jules (2021): Queer: Eine illustrierte Geschichte. Münster: Unrast.
  • Beemyn, Brett/Eliason, Mickey (Hrsg.) (1996): Queer Studies. A Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Anthology. New York/London: New York University Press.
  • Better, Alison/Simula, Brandy (2015): How and for whom does gender matter? Rethinking the concept of sexual orientation. In: Sexualities, 18. Jg., H. 5-6, S. 665-680.
  • Clare, Eli (2001): Stolen Bodies, Reclaimed Bodies: Disability and Queerness. In: Public Culture, 13. Jg., H. 3, S. 359-365.
  • Diamond, Lisa (2016): Sexual fluidity. In: Goldberg, Abbie (Hrsg.): The SAGE Encyclopedia of LGBTQ Studies. Thousand Oaks: SAGE, S. 1053-1055.
  • Engel, Antke (2001): Die VerUneindeutigung der Geschlechter – eine queere Strategie zur Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse? In: Heidel, Ulf u.a. (Hrsg.): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies. Hamburg: MännerschwarmSkript, S. 346-364.
  • Jagose, Annamarie (2001): Queer Theory: Eine Einführung. Berlin: Querverlag.
  • McRuer, Robert/Wilkerson, Abby L. (Hrsg.) (2003): Desiring Disability: Queer Theory Meets Disability Studies. Sonderausgabe GLQ, 9. Jg., H. 1-2.
  • Raab, Heike 2012. Intersektionalität und Behinderung – Perspektiven der Disability Studies.
    Online unter portal-intersektionalitaet.de/…, Stand: 11.12.2021
  • Tucker, Naomi, u.a. (Hrsg.) (1995): Bisexual Politics. Theories, Queries, & Visions. New York/London: Harrington Park Press.
  • Woltersdorff, Volker alias Lore Logorrhöe (2003): Queer Theory und Queer Politics. In: UTOPIE kreativ, H. 156, S. 914-923.