Sanism

Unter Sanism versteht man eine gesellschaftliche Idee, dass nur Menschen als ‚richtige‘ oder ‚vollwertige‘ Menschen gelten, die sich ‚vernünftig‘ verhalten oder ‚bei gesundem Verstand‘ sind. Was als vernünftig oder als gesunder Verstand gilt, das bestimmt immer die jeweilige Gesellschaft. Menschen, die als psychisch krank, ‚geistig behindert‘ oder aus anderen Gründen als ‚psychisch labil‘ oder ‚besonders emotional‘ gelten, werden dann aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder haben weniger Rechte. Früher wurden auch Frauen oder Menschen mit anderer Hautfarbe nicht als ‚richtige‘ Menschen gesehen, weil man sie zu Unrecht als weniger rational als weiße Männer gesehen hat. Menschen mit kognitiven oder sogenannten geistigen Beeinträchtigungen oder Menschen mit psychischen Erkrankungen wurden meistens in Heime oder Psychiatrien untergebracht. All diese Menschen durften nicht über sich selbst entscheiden und sie durften auch die Gesellschaft nicht mitgestalten.

Der Begriff Sanism geht ursprünglich auf den aktivistischen Anwalt Mortin Birnbaum zurück und wurde von Michael Perlin in der heutigen Verwendung etabliert. Sanism wird als Analyseperspektive vor allem im Feld der Mad Studies verwendet. Es handelt sich bei Sanism um eine Wortschöpfung aus dem englischen Adjektiv „sane“, zu Deutsch „vernünftig“, „zurechnungsfähig“, „bei gesundem Verstand“ oder „geistig gesund“ und der Endung „-ism“, auf Deutsch „-ismus“, analog zu anderen Begriffen, die ein strukturelles Machtverhältnis umschreiben (wie z.B. Rassismus oder Sexismus). Sanism steht somit für eine grundlegende gesellschaftliche Struktur und Ideologie, die das (vollwertige) Menschsein an das Vorhandensein von bestimmten kognitiven Fähigkeiten knüpft. Sanism kann auch als eine Variante des Ableism gesehen werden, die sich insbesondere auf die geistige Fähigkeit und psychische Stabilität von Individuen als gesellschaftliches Ideal bezieht. Alternative Begriffe sind ‚cognitive ableism‘ oder ‚mentalism‘ (von der Aktivistin Judi Chamberlin geprägt).

Im Laufe der Geschichte wurde nicht-normkonformes Verhalten in unserem kulturellen Kontext zunehmend als ‚das Andere der Vernunft‘ konstruiert, während gleichzeitig Vernunft und Selbstkontrolle einen immer höheren Stellenwert in der Definition, was einen Menschen ausmacht (und z.B. vom Tier unterscheidet) erhielt, zuletzt durch die Ideale der Aufklärung. Dies führt dazu, dass Menschen, denen bestimmte kognitive Kompetenzen abgesprochen werden, insbesondere Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen oder schweren/chronischen psychischen Erkrankungen, auf teilweise drastische Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen, entrechtet und institutionalisiert wurden und werden, insbesondere in der zwangsweisen Unterbringung in Heimen und Psychiatrien bzw. deren Vorläufern. Diese Aussonderung aus der Gesellschaft wiederum führt dazu, dass sich gesellschaftliche Mythen, Stereotype und Vorurteile – z.B. dass diese Menschen gefährlich oder nicht in der Lage seien, Entscheidungen für sich selbst zu treffen usw. – hartnäckig halten können, weil sie nicht durch alltägliche Interaktionen irritiert werden können. Auch die Formierung einer sozialen Bewegung, um für die eigenen Rechte zu kämpfen, ist unter den Bedingungen der Institutionalisierung erschwert. Dennoch gab es schon seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Protestbewegungen, die die Zustände in den Psychiatrien öffentlich anprangerten (seit den 1960ern bekannt als Anti-Psychiatrie-Bewegung, Bewegung der Psychiatrie-Erfahrenen).

Jedoch wird nicht nur Tieren, Kindern und Menschen mit sogenannten geistigen oder seelischen Behinderungen die Fähigkeit zu vernünftigem Handeln abgesprochen. Sanism diente und dient darüber hinaus auch als Rechtfertigung der Unterdrückung aller möglichen Gruppen. Deren vermeintliche Minderwertigkeit wird damit begründet, dass sie angeblich nicht rational/vernünftig denken und handeln können und übermäßig gefühlsbetont, irrational, unverantwortlich usw. seien. So wurden Frauen in der Geschichte häufig als kindlich oder gar hysterisch abgestempelt (was ihre Entmündigung rechtfertigen sollte) und Schwarze Männer als irrational und aggressiv (was ihre gewaltsame Unterdrückung rechtfertigen sollte). Sanism ist somit eine wesentliche Grundlage für die Unterscheidung von Menschen in diejenigen, die Rechte und Selbstbestimmung ‚verdienen‘ und diejenigen, für die es angeblich besser sei, wenn andere über ihr Schicksal entscheiden. Sanism wurde daher oft mit anderen -ismen wie Rassismus, Sexismus, Adultismus, Klassismus usw. verknüpft. Darüber hinaus täuscht die Unterscheidung in die ‚Vernunftbegabten/Vernünftigen‘ und die ‚Unvernünftigen‘ darüber hinweg, dass kein Mensch rein rational handelt, sondern immer auch von Emotionen geleitet ist und dass kein Mensch frei von Unsicherheiten, Instabilitäten, zeitweisem Verlust der Selbstkontrolle oder Krisen durchs Leben geht. Dennoch ermöglicht die sanistische Unterscheidung es der gesellschaftlichen Mehrheit, sich durch die Projektion der Unvernunft auf bestimmte Gruppen selbst als vernünftig, mental stark, stabil und kompetent zu konstruieren.


Literatur

  • Chamberlin, Judi (1979): On our own: Patient-controlled alternatives to the mental health system. New York: McGraw-Hill.
  • Foucault, Michel ([1961] 2007): Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 17. Auflage.
  • LeBlanc, Stephanie/Kinsella, Elizabeth Anne (2016): Toward Epistemic Justice: A Critically Reflexive Examination of ‚Sanism‘ and Implications for Knowledge Generation. In: Studies in Social Justice, 10. Jg., H. 1, S. 59-78.
  • Meerai, Sonia/Abdillahi, Idil/Poole, Jennifer (2016): An Introduction to Anti-Black Sanism. In: Intersectionalities: A Global Journal of Social Work Analysis, Research, Polity, and Practice, 5. Jg., H. 3, S. 18-35.
  • Perlin, Michael L. (1992): On Sanism. In: SMU Law Review, 46. Jg., H. 2, S. 373-407.
  • Poole, Jennifer M. u. a. (2012): Sanism, ‚Mental Health‘, and Social Work/Education: A Review and Call to Action. In: Intersectionalities: A Global Journal of Social Work Analysis, Research, Polity, and Practice, 1. Jg., S. 20-36.